Wenn es beim Thematic Investing darum geht, strukturelle Veränderungen zu nutzen, sollte es doch einen ETF geben, der die Umkehrung des größten Wirtschaftsereignisses des letzten Jahrhunderts durch Reshoring thematisiert.
Von der Nachkriegsallianzbildung über das Bretton-Woods-System, Chinas „Großer Sprung nach vorn“ bis zum Fall der Berliner Mauer und den Strukturanpassungsprogrammen des IWF – der Aufbau einer globalen Wirtschaftsordnung über ein halbes Jahrhundert hinweg ist das Wunder, das die Unternehmensmargen polsterte, Konsumgewohnheiten unterstützte und globale Chancen für Handel und Investitionen eröffnete.
Unsere Gewissheit eines Fukuyama’schen „Endes der Geschichte“-Szenarios wurde jedoch im letzten Jahrzehnt erschüttert: Russlands Invasion der Krim 2014, die Eskalation der US-chinesischen Sanktionen und eine allgemeine Hinwendung zu populistisch-isolationistischer Politik im Westen.
Diese Ereignisse bereiteten die Bühne für die Reshoring-Erzählung, die während der von Historiker Alan Tooze so genannten „Polycrisis“ nach COVID-19 reifte. Beginnend mit überlasteten oder durch Lockdowns und Impfungen komplett umgekrempelten Lieferketten, trugen Russlands Invasion der Ukraine und Chinas verschärfte Rhetorik gegenüber Taiwan ein greifbares Fragezeichen hinter die Vorzüge globaler Interdependenz.
Weit entfernt von einer flüchtigen Modeerscheinung unter Ökonomen und Journalisten: BlackRock, der weltgrößte Vermögensverwalter, benannte Reshoring zu seinem Top-Thema für 2023 in seinemThematic Outlook 2023im Zuge der Konvergenz demografischer, technologischer und geopolitischer Veränderungen.
„Länder und Unternehmen erkennen zunehmend die Bedeutung resilienterer Lieferketten, da Geopolitik wichtige Ressourcen potenziell beeinflusst“, so BlackRock. „Unternehmen und politische Entscheidungsträger arbeiten daran, mehr Chancen im Inland zu schaffen und gleichzeitig mit der Weltwirtschaft verbunden zu bleiben.“
Dieses Thema hat auch statistische Unterstützung. Eine Studie der Société Générale Cross Asset Research schätzt, dass allein im letzten Jahr 350.000 neue Arbeitsplätze in den USA durch zurückverlagerte Produktion entstanden sind.
Grafik 1: Anzahl der angekündigten Arbeitsplätze durch Reshoring und ausländische Direktinvestitionen

Quelle: SocGen Cross Asset Research, Reshoring Initiative
Interessanterweise rückte Reshoring im vergangenen Jahr stärker in den Fokus von Unternehmen als während der Hochphase der COVID-19-Unsicherheit 2020. Mitte 2022 wurde Reshoring, Onshoring oder Nearshoring in den Quartalsberichten von rund 180 US-Unternehmen erwähnt.
Grafik 2: Erwähnungen von Onshoring und Reshoring in Unternehmensberichten gestiegen

Quelle: SocGen Cross Asset Research, Bloomberg
Ob Anleger vom Reshoring-Argument überzeugt sind oder nicht: Sie sollten zumindest bedenken, dass Unternehmen ihre Aktivitäten verstärkt ins Inland verlagern. Die Rückverlagerung von Arbeitsplätzen gewinnt an Dynamik, während der Anteil des Welthandels an der Weltwirtschaft stetig sinkt – und zwar so schnell wie seit mindestens fünf Jahrzehnten nicht mehr.
Grafik 3: Jährliche Ankündigungen von Reshoring-Arbeitsplätzen in den USA

Quelle: Wall Street Journal, BlackRock
Grafik 4: Welthandel als Prozentsatz des BIP

Quelle: SocGen Cross Asset Research, Weltbank
Investierbare Reshoring-Möglichkeiten für ETFs
Interessanterweise gab es bereits Jahre vor dem Mainstream-Aufschwung des Reshorings ETFs, die auf dieses Thema setzten. Dazu zählt der First Trust RBA American Industrial Renaissance ETF (AIRR).
Der 2014 aufgelegte und den Richard Bernstein Advisors American Industrial Renaissance Index nachbildende AIRR umfasst 49 US-Industrie- und Infrastrukturunternehmen, die höchstens 25% ihrer Umsätze außerhalb der USA erzielen. Ebenso gehören dazu heimische Banken in als „Industriezentren“ geltenden Staaten.
Die SocGen erstellte im Rahmen ihrer Analyse auch einen investierbaren US-Onshoring-Index mit 28 Aktien. Darunter sind der Industrie-REIT Prologis, die Güterverkehrsgesellschaft Union Pacific, der Industriekonzern Honeywell und der Rüstungsspezialist Raytheon Technologies.
Neben der Produktion gibt es weitere, bestehende ETF-Themen, die von der breiteren strategischen Verlagerung zur Reduzierung ausländischer Abhängigkeiten profitieren könnten.
Ein Beispiel sind die Dutzenden von ETFs im Bereich saubere Energie mit Vermögenswerten von zig Milliarden Dollar. Nachdem die Gaspreise nach der Invasion der Ukraine auf 15-Jahres-Hochs stiegen, stellten die USA über den Inflation Reduction Act 369 Milliarden Dollar und die EU über RePowerEU 210 Milliarden Euro für Investitionen und Steuergutschriften zur Ausweitung der heimischen Kapazitäten für saubere Energie bereit.
Im vergangenen Jahr erzielte der 6,1 Milliarden Dollar schwere iShares Global Clean Energy UCITS ETF (INRG) einige der stärksten Renditen aller europaweit gelisteten Themen-ETFs mit einem Plus von 14,5%. 2022 trugen Wind- und Solarenergie laut der Energie-Denkfabrik Ember erstmals gemeinsam mehr zur Stromerzeugung in der EU bei als Gas.
Grafik 5: Stromerzeugung aus Wind und Solar übertraf erstmals Gas in der EU

Quelle: Ember
Ein zweiter direkter Nutznießer könnten Halbleiter-ETFs sein, die von der entscheidenden Komponente im Wettlauf zwischen den USA und China um die technologische Vorherrschaft profitieren.
Im vergangenen Juli verabschiedeten die US-Gesetzgeber den Chips and Science Act im Umfang von 280 Milliarden Dollar. Ziel ist die Förderung von Forschung und Entwicklung sowie der heimischen Halbleiterproduktion. Darin enthalten sind 52,7 Milliarden Dollar für Forschung, Fertigung und Ausbildung sowie eine Steuergutschrift von 25% für Investitionen in die Halbleiterfertigung.
Im Oktober verhängten die USA eine neue Runde von Sanktionen, die den Verkauf von Chip-Produktionsanlagen nach China einschränken.
„Nur 12% der Halbleiterchips werden heute in den USA hergestellt, gegenüber 37% im Jahr 1990. Die USA sehen die Notwendigkeit, ihre Abhängigkeit von anderen Regionen zu verringern“, so SocGen. „Angesichts geopolitischer Verschiebungen und eines stärkeren Fokus auf die Fiskalpolitik in den USA haben globale Unternehmen seit der Verabschiedung des Chips and Science Act 2022 Investitionen von mehr als 350 Milliarden Dollar angekündigt.“
Schließlich könnte das Thema Automatisierung davon profitieren, dass Unternehmen versuchen, ihre Margen vor den Auswirkungen von Reshoring-Arbeitskräften und den damit verbundenen Lohndruck zu schützen.
Doch nicht das Ende der Geschichte?
Dennoch darf man nicht vergessen, dass Globalisierung kein Prozess ist, der sich über Nacht umkehren lässt. Auch plant weder die USA noch irgendein anderes Land, sich von der Außenwelt abzukoppeln.
Auch wenn wir weiterhin eine Verlangsamung der Globalisierung sehen könnten, sprach Alan Tooze von einer „Slowbalisation“ statt vollständigem industriellen Isolationismus.
Grafik 6: Globalisierung in der jüngeren Geschichte

Quelle: Jorda-Shularick-Taylor Macrohistory Database
BlackRock stimmte zu und erklärte, dass bei Fehlen neuer Druckfaktoren Unternehmen sich für den „Business-as-usual“-Ansatz oder Trägheit bei ihren aktuellen Lieferketten entscheiden könnten.
„Obwohl zahlreiche Faktoren Unternehmen dazu bewegen, ihre Abläufe und Lieferketten widerstandsfähiger zu gestalten, könnte eine Verringerung des geopolitischen Risikos den Druck auf Unternehmen, kurzfristig zu handeln, abschwächen“, hieß es.
Investoren sollten auch bedenken, wie schwierig es für Unternehmen bereits war, die Produktion aus China zu verlagern. Zwar begann Apple 2020, seine Produktion aus China zu verlagern, doch schätzt Counterpoint Research, dass 2024 noch immer 90% jedes Hardware-Geräts des Unternehmens dort produziert werden.
Im Gespräch mitETF Streamsagte David Henry, Investmentmanager bei Quilter Cheviot, zum Ende der Null-COVID-Politik: „China, die Fabrik der Welt, öffnet wieder, und manche sagten, die Welt werde zu einem weniger globalen Ort.
„Dem kann ich nicht zustimmen. Wenn Unternehmen versuchen, ihre Margen zu maximieren, kriechen sie über Glasscherben, um Effizienz zu finden. Wenn das Outsourcing und die Globalisierung bedeutet, dann soll es so sein.“
Chinas Wiedereröffnung wird eine willkommene Erleichterung für die Warenversorgung bringen, ganz zu schweigen von seiner zentralen Rolle bei Materialien wie Seltenen Erden. Sollten jedoch Konflikte wie der Russland-Ukraine-Krieg andauern oder die chinesisch-amerikanischen Beziehungen weiter abkühlen, wird Reshoring zu einem Thema mit einer überzeugenden Investitionsthese – und vielleicht eines, das einen ETF in Europa verdient.
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