Alte Mythen sind hartnäckig. Alte Mythen mit einem Anschein von Glaubwürdigkeit sind wie Unkraut im perfekt gepflegten Rasen: Sie kommen jede Saison wieder. Denken Sie an Area 51 oder die Verschwörungstheorien zur Mondlandung.
Anhänger solcher Mythen klammern sich an isolierte Fakten. Diese Fakten mögen für sich genommen (und isoliert betrachtet) korrekt sein. Im Gesamtkontext unterstützen sie den Mythos jedoch nicht.
Verfechter der Mondlandungs-Verschwörung sagen beispielsweise, das Bild der Flagge auf dem Mond beweise ihre Theorie. Sie fragen: Wie kann sie wehen, wenn es keine Atmosphäre gibt? Liest man jedoch die Erklärung zur fehlerhaften Teleskopstange, ergibt alles Sinn.
Was ist wahrscheinlicher: Ein defektes Ausrüstungsteil nach stundenlanger Belastung durch enorme G-Kräfte? Oder ein riesiger Schwindel, an dem 100.000 Menschen aus dem Raumfahrtprogramm beteiligt sind? Ockhams Rasiermesser stützt die erste Annahme als plausible Erklärung. Wir auch.
In der Welt der Faktoren ist ein hartnäckiger Mythos, der wie ein Zombie in einem B-Movie nicht sterben will: Marktkapitalisierungsgewichtete Indizes seien eine gute Momentum-Wette. Wissenschaftler und Praktiker haben viele Artikel und Notizen verfasst, um diese Vorstellung zu widerlegen. Dennoch taucht der Mythos alle paar Jahre wieder auf – besondersnachdem Momentum eine gute Phase hatte.
Ein wichtiger Grund für die zyklische Wiederkehr dieser Frage: In guten Zeiten weisen die Leute auf das Momentum im Index hin. Das ist aber etwas anderes, als ob der Index selbst ein gutes Vehikel für Momentum wäre.
In dieser kurzen Analyse tragen wir zur bisherigen Entlarvung dieses Mythos bei. Wir hoffen, das wachsende Werk zu ergänzen, das versucht, dieser Hydra möglichst viele Köpfe abzuschlagen.
Momentum im Index
Betrachten wir kurz, was Momentum ist. Momentum ist ein Begriff aus der Physik für die Bewegungsmenge eines Objekts, definiert als „Masse in Bewegung“. Im Finanzwesen weisen bestimmte Aktienmerkmale Momentum auf. Der Kurs ist die häufigste Variable (insbesondere Kursrenditen über die letzten 12 Monate, den letzten Monat ausgelassen). Es gibt aber auch andere fundamentale Kennzahlen, die Momentum zeigen. In dieser Analyse konzentrieren wir uns auf den Momentum-Faktor: Long-Positionen in Aktien mit positiven Renditen und Short-Positionen in Aktien mit negativen Renditen.
Warum hält sich dieser Mythos? Befürworter sagen: Wenn große Unternehmen in einem marktkapitalisierungsgewichteten Portfolio positive Renditen erzielen, wächst ihre Marktkapitalisierung. Das erhöht ihr Gewicht im Index. Damit sei der Index eine Momentum-Wette. Das mag verlockend klingen. Man muss aber bedenken: Der Index ist ein Sammelsurium aus Faktor-Exposures – er hat alles und nichts zugleich.
Die folgende Analyse zeigt, dass der Index seit 2002 positive und negative Expositionen (Faktor-Betas) zu den meisten gängigen Faktoren aufweist. Die Momentum-Exposure war 2018 und 2019 zwar positiv, beträgt aber im Durchschnitt seit 2002 nur knappe -0,04. Seit 2002 war der Index also keine gute Momentum-Wette.

Quelle: FactorResearch
Wir könnten hier aufhören. Doch wir graben tiefer. Skeptiker könnten einwenden, dass der Index in bestimmten Perioden eine positive Momentum-Exposition bot. Warum dann nicht argumentieren, der Index sei eine gute Low-Volatility- oder Quality-Wette? Immerhin betragen die durchschnittlichen Expositionen zu diesen beiden Faktoren seit 2002 0,19 bzw. 0,15.
Zum Vergleich betrachten wir ähnliche Expositionen des größten ETFs (MTUM) nach verwaltetem Vermögen (10 Mrd. USD), der speziell auf Momentum ausgelegt ist. Die folgende Analyse zeigt diese Expositionen. Die Daten sind glatter, da sie erst seit Auflegung des ETFs im Jahr 2014 zurückreichen.
Es fällt auf: Momentum ist in den meisten Zeiträumen die mit Abstand größte Exposition. Im Durchschnitt ist die Momentum-Exposition mit 0,31 am höchsten, gefolgt von geringer Volatilität (0,22). Qualität liegt mit 0,06 nur knapp im positiven Bereich. Value und Größe sind mit jeweils -0,17 konstant negativ. Um unsere ursprüngliche Frage zu paraphrasieren: Ist dieser Momentum-ETF eine gute Momentum-Wette? Unsere Antwort: Absolut.

Quelle: FactorResearch
Bisher haben wir zwei Dinge festgestellt: Ein marktkapitalisierungsgewichteter Index ist keine gute Momentum-Wette. Ein Momentum-ETF ist eine ordentliche Momentum-Wette. Nun untersuchen wir, was die beste mögliche Momentum-Wette ist.
Zur Motivation unserer Fokussierung auf Momentum betrachten wir populäre ETFs, die Zugang zu MSCI-Faktor-Indizes bieten. Die folgende Analyse zeigt die relative Wertentwicklung gegenüber dem S&P 500, da alle US-fokussiert sind. Momentum ist klar der einzige Faktor, der in den USA seit 2013 relativ zum S&P 500 funktioniert hat. Wir müssen diese Ergebnisse einschränken, da wir Daten bis zum 10. Juli verwendeten. Hätten wir die Analyse einen Monat früher durchgeführt, würde die relative Year-to-Date-Rendite für Momentum von 12,2 % auf knapp 1 % fallen.

Quelle: FactorResearch
Einige Leser sind vielleicht noch nicht vom Hauptargument überzeugt. Wir legen also noch einen Nagel im Sarg. Die folgende Analyse zeigt den Renditebeitrag der Top 25 Positionen nach Marktkapitalisierung im Jahr 2020 (Year-to-Date) der Momentum- und Markt-ETFs. Bei den drei größten Positionen in jedem Portfolio sind die Ergebnisse hinsichtlich des Renditebeitrags sehr ähnlich.
Danach, ab der viertgrößten Position, fallen die Räder für den Index ab. Wir räumen ein: Möglicherweise konzentrierten sich Befürworter des Mythos auf das Verhalten der drei größten Positionen und nahmen fälschlicherweise an, dieses Muster gelte für alle Bestände.

Quelle: FactorResearch
Momentum-Exposure erhalten
Nun zur letzten Frage: Welches ist das beste Vehikel, um Momentum-Exposure zu erhalten? Long-only Smart-Beta-ETFs sind konstruktionsbedingt eingeschränkt, um negative Momentum-Ansichten auszudrücken. Aktien können untergewichtet oder einfach nicht gehalten werden. Jeder puristische Quant weiß: Der effizienteste Weg zur Konstruktion eines Faktorportfolios beinhaltet die Abschaffung der Long-only-Beschränkung, um Short-Positionen einzubeziehen.
Institutionelle Anleger können Long-Short-Portfolios als Indizes von Investmentbanken kaufen. Für die meisten anderen Anleger gibt es jedoch nur wenige Optionen. Ein ETF (MOM) bietet Long-Short-Momentum-Exposure. Anleger haben jedoch weniger als 10 Mio. USD in dieses Produkt investiert.
Interessanterweise war die relative Wertentwicklung des Long-only Smart-Beta-ETF vergleichbar mit der des Long-Short Market-Neutral Momentum-Faktors. Gelegentlich treten jedoch große Abweichungen auf, wenn Aktienmärkte abstürzen, da Beta-Hedging und Rebalancing nicht täglich durchgeführt werden.

Quelle: Kenneth R. French Datenbibliothek, FactorResearch
Weitere Gedanken
Ein weiterer Mythos, der entlarvt werden muss: Momentum- und Wachstumsaktien seien dasselbe. Die Finanzmedien verwenden diese Begriffe synonym. Das lässt jeden Quant zusammenzucken, da diese Faktoren unterschiedlich definiert sind und Portfolios sich nur gelegentlich überschneiden.
Schlimmer noch: Anleger haben rund 200 Milliarden US-Dollar in Smart-Beta-Wachstums-ETFs in den USA investiert, fast genauso viel wie in Value-ETFs, verglichen mit weniger als 15 Milliarden US-Dollar für Momentum-Produkte. Angesichts dessen, dass es kaum empirische Belege dafür gibt, dass Wachstum ein Faktor ist, der über die Zeit positive Überrenditen erzielt, während zahlreiche Studien Momentum unterstützen, ist dies besorgniserregend.
Rodolfo Martell ist ehemaliger Geschäftsführer bei AQR in der Global Stock Selection Group und war auch bei QMA und BlackRock tätig.
Melden Sie sich hier für den wöchentlichen E-Mail-Newsletter von ETF Stream an hier



